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Verloren im Wald der Zahlen

Ohne Zahlen können wir die Welt nicht mehr verstehen und doch ist es leicht, sich in ihnen zu verirren. Publizist und Herausgeber Peter Felixberger zeigt uns, wie man es nicht macht.

Im März und April des Jahres 2020 sind zwei besondere Dinge passiert. Eine Welle der Angst ist über Deutschland geschwappt und für einen Moment waren Ernst und Nüchternheit das Gebot der Stunde. Das übliche Gezänk kam zur Ruhe, nicht nur wurde Wissenschaftlern zugehört wie schon lange nicht mehr, es wurde auch einhellig und entschieden gehandelt. Aber das war nicht alles. Das entschiedene Handeln war tatsächlich erfolgreich! Schon lange nicht mehr waren politische Maßnahmen so zielführend und das auch noch nach so kurzer Zeit.

Erinnern Sie sich noch an die Schreckensbilder aus den Krankenhäusern der Lombardei? Inzwischen fragt man sich, ob man sie nicht eher aus einem Katastrophenfilm kennt. Sie wirken schon fast nicht mehr real. Vor wenigen, aber langen Wochen waren es genau diese Bilder, die uns vor einer ähnlichen Zukunft für Deutschlands Krankenhäuser gewarnt haben. Eine ungebremste Verbreitung des Virus hätte tatsächlich das Gesundheitssystem nicht nur in Deutschland zusammenbrechen lassen. Aber weil es den Norden Italiens zuerst getroffen hatte, mussten wir nicht mehr rechnen, wir mussten nicht mehr denken und nicht mehr argumentieren. Wir mussten nur noch hinschauen. Ich hoffe, wenn alles vorbei ist, werden wir uns daran erinnern, wie das Leiden vieler Italiener uns den Mut gegeben hat, das Richtige zu tun.

Doch inzwischen ist die Angst verflogen. Der Zusammenbruch des Gesundheitswesens ist verhindert, wo anfangs jede infizierte Person im Durchschnitt noch 3 bis 4 weitere ansteckte, ist es jetzt nur noch eine. Das bedeutet, dass die Anzahl der Neuinfektionen und damit auch die der neuen Todesfälle auf einem mehr oder weniger konstanten Niveau bleibt. Bei den Todesfällen sind das zwischen 100 und 300 pro Tag. Wo wir anfangs im Angesicht der Katastrophe noch alle glaubten, im selben Boot zu sitzen, beginnen wir jetzt, neue Grenzen zu ziehen. Wir haben inzwischen viel davon gehört, wie schwere Covid-19 Verläufe mit hohem Alter oder schon bestehenden Erkrankungen zusammenhängen. Wer sich nicht zur Gruppe der Gefährdeten zählt, hat nun die Möglichkeit, Covid-19 als ein Anderer-Leute Problem wahrzunehmen. So kann eine neue Phase der öffentlichen Kommunikation beginnen: wir können anfangen, uns auf eine „neue Normalität“ einzustellen. Wir werden uns an den Anblick von in Stoff verhüllten Nasen und Münder gewöhnen und uns weniger eng zusammen drängen. Wir werden aber auch die Statistik der täglichen Covid-19 Toten ignorieren lernen, so wie wir es schon bei der Selbstmordrate, den Verkehrstoten und Frauen tun, die in Folge von sogenannter „Partnerschaftsgewalt“ zu Tode kommen (122 im Jahr 2018).

Die Lebensgefahr, in der wir uns zu Recht wähnten, hat uns dazu gebracht, neue Dinge zu lernen. Wir haben mathematische Begriffe in unser Vokabular übernommen und mehr Statistiken gelesen als je zuvor. Epidemiologen durften uns mit Zahlen die Welt erklären. Diese Zahlen waren aber auch anstrengend, haben sie uns doch zum Handeln oder eben Nicht-Handeln gemahnt. Es ist anstrengend, sich zusammenreißen zu müssen, Gewohnheiten ändern zu sollen oder Neues zu lernen. An eins scheinen wir uns aber erstaunlich gut zu gewöhnen: das Betreiben von Zahlenspielen. So ist es nur folgerichtig, dass immer öfter versucht wird, nun auch Zahlen in Stellung zu bringen, um die erfolgreichen Eindämmungsmaßnahmen („erfolgreich“ kann man gar nicht oft genug betonen) nun als Überreaktion umzudeuten. Dies wird wunderschön im Montagsblock von Peter Felixberger vorgeführt.

Peter Felixberger macht dort eine Hitparade des Todes auf. Wirklich, er spricht zum Beispiel von "Evergreens wie Malaria oder Herzinfarkt". Auch Analogien aus dem Sport hat er parat, Covid-19 sei auf Platz 1 der medizinstatistischen Champions League. Seine Kolumne liest sich wie eine Mischung aus putzigem Histörchen und Glosse, so endet er beispielsweise mit einer Weinempfehlung, ein ironischer Bezug auf das warme und trockene Wetter und damit ein Hinweis auf die Klimaerwärmung, von der wir im Moment kaum noch sprechen. Aber man muss nicht allen Themen zu jeder Zeit immer den gleichen Platz einräumen. Sich mal ein paar Wochen zu gönnen, um eine weltweite Krise zu verstehen und in den Griff zu bekommen, ist nicht das Problem. Dass ein solches auf Fakten gegründetes, beherztes und zielgerechtes Handeln die Ausnahme ist, aber sehr wohl.

Zu Recht weist uns Peter Felixberger auf einige blinde Flecken hin. Warum ist die Malaria zum Beispiel in Europa ausgerottet, grassiert aber immer noch vor allem in ärmeren Ländern? Ungefähr eine Million Menschen fallen ihr jährlich zum Opfer. Doch wo Felixberger kurz davor ist, unseren Blick aufs Ganze zu lenken, gewinnen die Sirenenklänge der Zahlen die Oberhand. Eine Zahl ist eine Abstraktion, geschaffen, um einen Größenvergleich zu ermöglichen. Der Einzelfall verschwindet in ihr, zwei Zahlen lassen sich immer vergleichen auch wenn das, auf was sie verweisen, nichts miteinander zu tun hat. Felixberger vergleicht die bis dato 5.640 Covid-19 Toten mit der Gesamtzahl aller jährlichen Sterbefälle in Deutschland, ungefähr eine Million. Angesichts der Million findet er dann die Covid-19 Zahlen „eher flau“. Mit diesem unsinnigen Vergleich hat sich Felixberger so weit verirrt, dass wir einen Moment brauchen werden, um wieder zurück zu finden. Schauen wir uns die Sache Stück für Stück genauer an.

Zuerst mal ist 5.640 die falsche Zahl, da sie sich nicht auf das ganze Jahr bezieht. Bei durchschnittlich 200 Covid-19 Toten pro Tag – wir erinnern uns, das ist der Durchschnitt auf den wir uns langfristig einstellen müssen, sollten wir uns mit einem Reproduktionsfaktor von 1 zufrieden geben – wären es aufs Jahr bezogen tatsächlich 200 mal 365, also 73.000. Zweitens ist der Vergleich mit den gesamten Sterbezahlen komplett daneben, denn wir dürfen davon ausgehen, dass die meisten davon eines natürlichen Todes gestorben sind. Wir Menschen sind nun mal sterblich. Sterblichkeit ist weder eine heilbare noch vermeidbare Krankheit. Die Gesamtzahl der jährlichen Todesfälle hängt mit der Größe der Bevölkerung, der durchschnittlichen Lebensdauer sowie der Geburtenrate zusammen und sonst mit einfach gar nichts. Felixberger berechnet sogar den Prozentsatz der Covid-19 Todesopfern an der Gesamtzahl aller Sterbefälle. Ab wieviel Prozent man eine Krankheit denn nun ernst nehmen darf, sagt er uns nicht. Vermutlich hofft er darauf, dass alleine die Kleinheit der Zahl schon seine Schlussfolgerung untermauert, nämlich dass das mit Covid-19 doch irgendwie gar nicht so schlimm war. Uns eine bedeutungslose Zahl aufzutischen und zu hoffen, dass ihre Größe psychologisch wirkt, nennt man Manipulation. Dafür bekommt Felixberger jetzt die erste gelbe Karte. Das hat er nun davon, die Champions League ins Spiel gebracht zu haben.

Machen wir zur Sicherheit noch eine Gegenprobe. Was, wenn in einem von Rechtsextremisten begangenen Anschlag 10 ältere Menschen oder solche mit Vorerkrankungen getötet worden wären und nun ein Politiker vom rechten Rand uns Vorrechnen würden, dass das schließlich nur 0,001% aller Menschen sind, die jedes Jahr in Deutschland sowieso sterben? Wir würden selbigen Politiker umgehend und völlig zurecht öffentlich an den Pranger stellen. Warum schlägt dieselbe Empörung nicht auch bei Felixbergers Vergleich an? Weil die Tode beim Anschlag sinnlos waren? Nun, ein Tod aufgrund eines Virus ist auch nicht so sinnvoll. Weil bei einem Virus niemand Schuld hat? Nein, bei einem Virus, der auf einem Lebendmarkt auf den Menschen überspringt und sich dann praktisch ungehindert auf der ganzen Welt ausbreiten kann, haben eine ganze Menge Leute Fehler gemacht. Der Grund ist, dass man bei 10 Menschen noch die Einzelperson vor Augen hat. Jeder einzelne dieser vermeidbaren Todesfällen ist eine Tragödie. Sobald die Zahl aber größer wird, wird sie langsam zu einem Element in einer Statistik. Der Bezug zum Einzelfall verschwindet, man könnte sagen, ihre Abstraktheit wächst. Plötzlich ist die Zahl einfach nur noch eine Zahl und der Vergleich mit jeder x-beliebigen anderen scheint sinnvoll.

Um die 5.640 Covid-19 Toten, von denen im Montagsblock die Rede ist, zu verstehen, müssten man sie eigentlich so schreiben: 5.640 = 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + …, was einige Seiten in Anspruch nehmen würde. Jede 1 steht für eine einzelne Person, die ich jetzt mal zum Zwecke der Veranschaulichung als hochbetagt annehme. Würde diese Person Covid-19 zum Opfer fallen, so würde sie, wahrscheinlich nachdem Anzeichen von Atemnot eingesetzt haben, ins Krankenhaus eingeliefert, wo sie ohne den Beistand von Angehörigen alleine der Angst des wahrscheinlich nahen Todes – als hochbetagt Person ist sie sich ihrer Verletzlichkeit bewusst – ausgesetzt wäre. Jeder immer schwerer werdende Atemzug verstärkt die Angst vor dem Ersticken. Wenn die Beatmung nicht mehr zu vermeiden ist, wird sie eine Ärztin oder Arzt zuvor ins künstliche Koma versetzen. Unsere Patientin weiß, dass sie davon vielleicht nicht mehr erwachen wird, immer noch ganz alleine ohne Beistand, während sich die Familie zu Hause klar macht, dass sie wahrscheinlich nicht mehr Abschied nehmen kann und eine normale Beerdigung aus Hygienegründen nicht stattfinden wird. Diese, sicherlich unangenehme Gefühle weckende Beschreibung zeigt, dass wir nicht nur vom Verlust eines Menschenlebens sprechen, sondern auch und gerade vom Verlust von Menschenwürde. Niemand sollte, wenn wir es vermeiden können, in der Stunde seines Todes in Angst alleine gelassen werden. Jede 1 in der Summe, die zu 5.640 führt, ist ein Stück verloren gegangener Menschenwürde.

Aber wie könnte man mit den Zahlen denn nun besser umgehen? Epidemiologen verwenden sie ja schließlich auch als wichtiges Hilfsmittel. Zuerst einmal sollten wir damit aufhören, die hinter einer Zahl stehenden menschlichen Schicksale zu verniedlichen, indem wir uns eben mal im Web ein paar größere Zahlen zusammen recherchieren und diese dann als Kontrast dagegen stellen. Die 122 Frauen, die 2018 von Partnern oder Ehemännern getötet wurden, müssten wir dann ja noch eher ignorieren als die bis dato 5.640 Covid-19 Opfer. Mich schockiert aber, dass in Deutschland überhaupt mehr als Hundert Frauen ein solches Schicksal erleiden. Sie offenbart ein tieferes Problem, das ungeachtet der Größe von 122 nicht weniger skandalös ist. Es sind nicht nur die großen Zahlen, die uns die Augen öffnen.

Und doch heißt dies alles nicht, dass wir nicht auch immer wieder schmerzliche Vergleiche anstellen müssten. Die Notwendigkeit für solche Vergleiche ergibt sich zum Beispiel daraus, dass nicht immer und überall genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, um unnötiges Leiden zu vermeiden. Am augenfälligsten ist das bei der Praxis der Triage zu sehen. Sind die Kapazitäten eines Krankenhauses überschritten, müssen Ärztinnen und Ärzte entscheiden, wer noch Hilfe bekommt und wer nicht – ein Horrorszenario. In diesem Moment kann man nicht mehr anders, als den Wert zweier Leben gegeneinander abzuwägen. Es ist also so, dass manchmal verschiedenen Leben tatsächlich ein unterschiedlicher Wert beigemessen wird. Aber, und das ist entscheidend, dieser Akt des Vergleichens wird uns von außen aufgedrängt. Der Gouverneur des Bundesstaates New York Andrew Cuomo hat kürzlich erklärt, „we’re not going to put a dollar figure on human life“. Der Teil, auf den es hier ankommt, ist das „we’re“. Es ist entscheidend, wer das Preisschild anhängt. Wir Menschen dürfen das nicht aus freien Stücken und ohne Not tun. Der Arzt oder die Ärztin, die eine Triage durchführt, tut das nicht aus eigenen Motiven heraus. Sie kann nicht anders ohne Handlungsfähigkeit zu verlieren. Aber wenn wir uns in einer solchen Notsituationen wiederfinden, ist es entweder die Konsequenz eines früheren Versagens oder eines generellen Unvermögens, sie legt in jedem Fall eine Schwäche offenbar, die es zu überwinden gilt.

Peter Felixberger macht in der Tat den kurzen Versuch einer Abwägung – Covid-19 gegen Herzinfarkt – scheitert aber genauso kläglich wie schon beim Zahlenvergleich. Felixberger behauptet, dass Chefärzte „hinter vorgehaltener Hand“ davon berichteten, dass zur Zeit nur bis zu 50% soviel Patienten wie sonst wegen Herzinfarkten den ärztlichen Rat suchen und suggeriert, dass Herzinfarkte in dieser Größenordnung immer noch stattfinden, aber unbehandelt bleiben. Die Ursache für den Rückgang der Zahlen kennen wir aber noch gar nicht. Vielleicht haben sich die Patienten nicht in die Notaufnahme getraut, vielleicht hat die Zeit der eingeschränkten Aktivitäten, in der viele zuhause geblieben sind, aber auch zu weniger stressvollen Situationen geführt, und so die Anzahl akuter Herzprobleme verringert. Dass Ärzte den Rückgang aber nur hinter vorgehaltener Hand berichten würden, ist schlichtweg falsch. Diese Beobachtung wurde von Gesundheitsminister Jens Spahn in einer Bundespressekonferenz mit großer Öffentlichkeitswirksamkeit schon am 17.4. geäußert, lange vor dem hier besprochenen Montagsblock. Das gibt nun leider die zweite gelbe Karte. Damit sind wir bei Gelb-Rot. Mal sehen, ob Felixberger den nächsten Montagsblock seinem Kollegen Armin Nassehi überlässt und von der Ersatzbank aus mitliest…

Die Frage, wie denn nun mit den Zahlen besser umgegangen werden könnte, haben wir noch nicht ausreichend geklärt. Ein Blick auf die Praxis der Epidemiologie ist erhellend. Mit dem SARS-CoV-2 Virus steht uns ein unsichtbarer Gegner gegenüber. Was die Epidemiologie nun tut, ist, diesen Gegner mit Hilfe von Zahlen sichtbar zu machen, indem sein Effekt, so gut es die Datenlage erlaubt, nachgezeichnet wird. Der einzige Sinn und Zweck dieser Übung besteht darin, die Wirkung von Maßnahmen beurteilen zu können. So können wir die Verbreitung des Virus verringern und Leiden verhindern. Eine Diskussion darüber, wie viel Leiden die angestrengten Maßnahmen nun ihrerseits auslösen, ist nicht nur legitim, sondern geradezu geboten. Warum man diese Diskussion aber nicht mit Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit führen kann, ist mir schleierhaft.

Was mich beeindruckt hat, ist, mit welchem Ethos und welcher Solidarität wir in den ersten Wochen gehandelt haben. Es gibt nicht wenige, die sich gerade neu erfinden, die angesichts von Beschränkungen alternative Wege probieren. Ich frage mich, wie viele andere, solche die gerade zur Welt vor Covid-19 zurückkehren wollen, einfach nur Angst davor haben, was Menschen in dieser Zeit der Krise gerade lernen: dass unser Leben vorher gar nicht so alternativlos war und fundamentale Änderungen vielleicht doch möglich sind. Was wäre also, wenn wir dieses Ethos beibehalten könnten? Was wäre, wenn wir ehrgeizig blieben, wenn wir uns nicht mit 73.000 Covid-19 Toten pro Jahr zufrieden gäben – wer weiß, wie lange wir noch auf einen breit zur Verfügung stehenden Impfstoff warten müssen – wenn wir die Reproduktionszahl auf deutlich unter 1,0 drücken könnten? Dann könnte uns das RKI mit einer neuen Zahl beglücken: der Halbierungszeit. Das ist die Zeit nach der sich die aktiven Infektionen halbieren. Welche Kraft uns das geben könnte, ein Virus durch reine Verhaltensänderung zu besiegen! Mit dieser Kraft könnten wir dann nach und nach auch Klimawandel, Ungleichheit, Hunger und andere Krankheiten angehen.